Vorgereist

Charlotte Wiedemann (*1954)

Auslandsreporterin, politische Journalistin, Autorin

„Ich habe versucht, die Maßstäbe zu verstehen, nach denen die Menschen in Mali sich selbst betrachten.“

Dieses Motto, mit dem Charlotte Wiedemann ihre Herangehensweise für die Reportagen ihres letzten Buches umreißt, lässt sich mühelos auch auf andere Länder übertragen, die sie uns in zahlreichen Artikeln und Büchern nahebringt.
Als gelernte Journalistin arbeitete sie 15 Jahre lang in den Redaktionen von Stern und Die Woche, bevor sie 1999 für fünf Jahre als „Freie“ ihren Wohnsitz in Malaysia wählte und von dort aus Recherchen über Kultur, Politik und Menschenrechte in ostasiatischen Ländern unternahm. Seit 17 Jahren in außereuropäischen Ländern unterwegs, fordert die Journalistin in ihren Berichten wie in einer Denkwerkstatt zur Reflexion über unser Weltbild auf, über das, was die Medien als Wahrheit ausgeben und über die Rolle des vorurteilsbeladenen Westen in einer zunehmend polyzentrischen Welt. „Aufklärung ist immer schwieriger als Verdummung“, zieht sie in einem Interview Bilanz, denn die Klischees stecken tief in uns selbst – ob als Nachrichten-HörerInnen oder Reisende sind wir gegenüber fremden Kulturen nicht frei von Abwehr und Projektionen. In verschärfter Aktualität greift sie als zentrale Frage unsere westliche (Un-)Kenntnis islamischer Welten auf. Häufige Reisen in den Iran, nach Ägypten, Tunesien und in den Jemen führten zu einem ihrer geographisch-gesellschaftlichen Schwerpunkte im islamischen Raum, ein anderer ist das westafrikanische Mali.

Über fünf Jahre hinweg hat sie Mali immer wieder durchfahren, hat an einzelnen Orten festgemacht, ist eingetaucht in das karge und unsichere Leben abseits von Bamako und Timbuktu. Wie in einem schillernden Puzzle reiht sie die Ausschnitte aus dem Alltag, aus dem religiösen Leben, aus Konflikten und Machtinteressen zu einem politischen Tableau, das – wie in all ihren Büchern – reich an Erzählung, an Widersprüchlichem und an Bildern von Schönheit und Fremdheit ist.

Oft sind es die Frauen, deren Probleme und Engagement sie in den Fokus stellt. Sie sind es, die in gemeinsamer Stärke kleine Verhältnisse revolutionieren, um – wie im arabischen Frühling – Großes zu bewirken. Jenseits der gewohnten Berichterstattung beschreibt sie die Rolle der Frauen in Regionen, die wir nur als konfliktbeladen kennen: „nicht, weil ich selbst eine Frau bin, sondern um der besseren Analyse willen. In Pakistan habe ich begriffen, wie sehr die Frauen im Zentrum gesellschaftlichen Ringens stehen, wie sich in ihrer Position fast alle Gegensätze des Landes spiegeln, Frauenrechte sind nicht, wie oft im Westen, ein belächelter Nebenaspekt, dafür ist ihre Rolle viel zu wichtig. Starke Frauen sind der Kern der Zivilgesellschaft; gegen Pakistans Powerfrauen wirken wir westlich Emanzipierten wie Federn im Wind. Wer Musliminnen stets nur in einer Opferrolle sieht, wird deren Länder kaum akkurat beschreiben können.“

Der Iran und wie sich das Land vorsichtig der Welt öffnet, nicht nur mit „Leggings in Schockfarben“ und freiheitsliebenden BloggerInnen, sondern auch mit Reformen an den Universitäten, gesellschaftlichen Freiräumen und einer starken Frauen“bewegung“ steht als Thema für die nächste Veröffentlichung fest.
Wer sich vorab schon einlesen möchte, sei auf die verschiedenen Zeitungsartikel und Dossiers im Internet
(Die Zeit / Le Monde Diplomatique) verwiesen.

Text: Anne-Felicitas Görtz
Foto: © Privat
Ein Link zu ihr: www.charlottewiedemann.de

  • Charlotte Wiedemann: Mali oder das Ringen um Würde. Meine Reisen in einem verwundeten Land.
    München 2014

  • Vom Versuch, nicht weiß zu schreiben. Oder: Wie Journalismus unser Weltbild prägt. Köln 2012

  • Ihr wisst nichts über uns. Meine Reisen durch einen unbekannten Islam.
    Freiburg 2008, aktualisierte Auflage 2012

  • Die Hütte der kleinen Sätze. Politische Reportagen aus Südostasien. Berlin 2004