Vorgereist

Wisława Szymborska (1923–2012 in Krakau)

Dichterin

„Es gibt so viel von Allem, dass das Nichts recht gut bedeckt bleibt.“

Wer in der deutschen Öffentlichkeit nach einer polnischen Nobelpreisträgerin fragt, hört eventuell den Namen Madame Curie. Auf die Frage nach einer zweiten – moderneren – erntet man Kopfschütteln. Dabei gibt es sie – 1996 erhielt die in Krakau lebende Wislawa Szymborska den höchsten Preis für Literatur. Dieses Ereignis zog sie aus der gewählten Abgeschiedenheit ihrer Schreibwelt in ein Rampenlicht, das ihr gar nicht gefiel. Sie beeilte sich, es schleunigst zu verlassen, indem sie in Oslo die kürzeste Dankesrede aller Zeiten hielt und das Preisgeld umgehend für soziale Zwecke spendete. Schon war es wieder still um die Dichterin, als hätte die konsequente persönliche Haltung ihren Preis in der Randexistenz.

Krakau, wohin Wislawa Szymborska als sechsjähriges Kind mit ihren Eltern zog, blieb zeitlebens für sie die Kulturmetropole Polens. Hier, in der Krupnicza-Straße, lebte und arbeitete sie bis zu ihrem Tod in tiefer Verbundenheit mit der Stadt. Was Prag für Kafka war, war Krakau für Szymborska. Sie erkundete auf Spaziergängen jeden Winkel der Krakauer Altstadt, um all die Geschichten zu entschlüsseln, von denen die unterschiedlichen Viertel erzählen. So wie es für viele Künstler und Künstlerinnen schwierig war, unter einem autoritären Regime die „richtige“ Position zu finden, balancierte auch sie in den Jahren des Kommunismus und Stalinismus mit ihrer poetischen Arbeit zwischen Zensur und Förderung. Für diese Zeit und für das Schicksal ihrer Generation hat sie 1957 in dem Gedicht Die zwei Affen von Breughel eine Metapher gefunden: „Ich werde in Menschheitsgeschichte geprüft. Ich stottere und ich stocke“ und einer der beiden angeketteten Affen sagt ihr die Antworten vor – „mit leisem Klirren der Kette“. Ihre Werke brachten ihr den Literaturpreis der Stadt Krakau ein sowie das polnische Verdienstkreuz für Künste. 1973 wurde der Gedichtband „Sól“ (Salz) ins Deutsche übersetzt und machte sie hier bekannt.

Entschieden und selbstkritisch, frei von Verbitterung hatte sie sich da schon von allen sozialistischen Illusionen entfernt, unterstützte in den 1980er Jahren die Solidarność-Bewegung, arbeitete an der polnischen Untergrund-Publikation „Arka“ und an der in Paris erscheinenden Exilzeitschrift „Kultura“ mit. „Zu viel ist geschehen,/ was nicht hat geschehen sollen,/ und was hat kommen sollen,/ kam leider nicht“, schrieb sie später rückblickend in dem Gedicht „Das Ende eines Jahrhunderts“. Ihr ironisch-präziser Stil ist frei von Erhabenheit und eröffnet erst bei genauem Lesen seine feinen Bezüge zum Weltgeschehen. „Nach jedem Krieg muss jemand aufräumen“ beginnt eins ihrer bekannten Gedichte. Sie bewegen sich oft in einer Sphäre sehr praktischer, realer Dinge. Beides, das Einfache und das Tiefe sind gleich wertvoll, Trauer und Schmerz sind verwandelt in Lakonie, wie in dem Gedicht über eine Katze, das sie nach dem Tod ihres Lebensgefährten schrieb: „Sterben – das tut man einer Katze nicht an,
 denn was soll die Katze
 in einer leeren Wohnung. An den Wänden hoch, 
sich an Möbeln reiben.
 Nichts scheint sich hier verändert zu haben,
 und doch ist alles anders.
 Nichts verstellt, so scheint es,
 und doch alles verschoben.
 Am Abend brennt die Lampe nicht mehr …“. Ihr Übersetzer, Karl Dedecius, hat ihr Schreiben am klarsten definiert: „Wisława Szymborskas feminine, feinsinnige Klugheit, selbstironisch und illusionslos, ist unverführbar, am wenigsten von der männlichen Vernunft.“

Von der öffentlichen Ausbreitung der eigenen Biographie hielt sie nichts. Alles, was es über sie zu sagen gäbe, würde schon in ihren Gedichten stecken. Einzig gegen das Etikett der „großen alten Dame“, womit man sie seit der Verleihung des Nobelpreises belegte, setzte sie sich zur Wehr. „Dame“? „Alt“? fragte sie in einem der seltenen Interviews leicht spöttisch nach. Sie sei eben diskret, das sei alles.

In Polen, wo die Poesie in der Wertschätzung höher als das Erzählen steht, war die Zehntausender-Erstauflage ihrer Gedichtbände meist nach einer Woche ausverkauft. Als am 1. Februar 2012 die Nachricht kam, dass Wislawa Szymborska im Alter von 88 Jahren in ihrem Haus gestorben sei, fuhren in der Stadt die Straßenbahnen und Busse mit Trauerflor. Beigesetzt wurde sie auf dem Rakowicki-Friedhof.

Text: Anne-Felicitas Görtz
Foto: © http://www.poetryfoundation.org
Auswahl ihrer Gedichtbände:
Salz. Gedichte. Übertragen und herausgegeben von Karl Dedecius. Suhrkamp 1973
Hundert Freuden. Suhrkamp 1986
Liebesgedichte. Suhrkamp 2005
Der Augenblick. Suhrkamp 2005
Glückliche Liebe und andere Gedichte. Suhrkamp 2012

Link zu Wisława Szymborska:
www.fembio.org